Das Sokratische Gespräch bei Platon

An diesem Punkt kann nicht darauf eingegangen werden, ob und gegebenenfalls wie Platon die Gesprächskunst des Sokrates weiterentwickelt hat. Im obigen Abschnitt konnte auch nur das über das Sokratische Gespräch gesagt werden, was Platon in seinen Schriften in Dialogform hinterlassen hat. Was Platon aber ohne Zweifel zusteht, ist der Verdienst (einmal abgesehen von seinen Verdiensten für die Wissenschaftslehre und Naturphilosophie sowie die gesamte abendländische Philosophie), dass er Sokrates durch seine Schriften „ewiges Leben“ geschenkt und dadurch Sokrates geistige Hebammenkunst für die Nachwelt zugänglich gemacht hat.

Platons zweifelsfrei echten Werke sind, mit Ausnahme der Apologie und einer Anzahl von Briefen, in Dialogform verfasst. Sie sind als Fassung vollständig erhalten wie sie vermutlich Thrasyllos um Christi Geburt ordnete. Es gibt ein allgemeines Einverständnis darüber, dass sie chronologisch in Gruppen mit charakteristischen Merkmalen eingeteilt werden können.

Obwohl Platon einer der wohl glanzvollsten aller philosophischen Schriftsteller ist, hat er Vorbehalte gegenüber dem Schriftgebrauch. Sein Vorbehalt besteht darin, dass er nicht glaubt, letzte Einsichten durch die Schrift mitteilen zu können, da sie sich nur im Umgang mit den Dingen und schließlich im „Berühren“ der Sache selbst einstellen. Die Schrift ist für Platon wie tot, sie kann auf Fragen nicht antworten wie ein Mensch. Aus diesem Grunde versteht er seine philosophische Schriftstellerei als einen Versuch, das Dialogische des Philosophierens nachzuahmen. Die Form seiner Darstellung wird bestimmt durch das was philosophieren für Platon ist, die Bemühung um Weisheit im Gespräch (vgl. Böhme 1988, S. 131; vgl. Platons 7. Brief). Im Dialog Phaidros legt der Sokrates des Platon seine Einstellung zum Schriftgebrauch dar. Er führt vier Argumente an:

  1. Die Schrift schwächt das Gedächtnis und somit das Denken;

  2. Die Leser glauben zu verstehen, was sie gelesen haben. Ihr Wissen ist bloßes Scheinwissen;

  3. Derjenige der Fragen hat, sieht sich immer nur denselben Sätzen gegenüber;

  4. Ein Buch hat keinen speziellen Adressaten. Es kann sich nicht gegen Missverständnisse schützen.

Hingegen können Menschen im Gespräch ihre Ansichten und ihr Denken besser entwickeln. Das gemeinsame Prüfen der Argumente und das Hinstreben auf Konsens im Gespräch produziert Aussagen, die nicht als fertige Formulierungen von außen übernommen werden. Auch kann der Fragende weitere Erläuterungen erbitten und derjenige, der Behauptungen aufstellt, kann sie selbst verantworten und immer eingreifen, wenn er annimmt, dass sie vom Gesprächspartner missverstanden wurden (vgl. Loska 1995, S. 237 f.).

Wie schon erwähnt, beschäftigt sich die antike Philosophie vor allem mit der Suche nach dem Wesen einer Sache und nach dem Wesen von allem. Hierbei entsteht in der antiken Philosophie folgendes zentrale Problem: Das Wesen sollte das Unvergängliche, Ewige sein. Die konkrete Sache ist vergänglich, sie kann aber nicht bestehen, wenn sie nicht am Wesen teilhat. Hierdurch entstand das Problem des Verhältnisses von Wesen und Erscheinung. Schon die frühgriechischen Philosophen, die heute Vorsokratiker genannt werden, führt dies zu der Frage, „was nun das Bleibende an den sich veränderten Dingen ist, was ihr Wesen ausmacht und was dem Chaos der Welt und ihrer Vielfalt die harmonische Ordnung verleiht, die bleibt, obwohl sich alles ständig verändert“ (Horster 1994, S. 10). Platon geht davon aus, dass alles, was der Mensch in der Natur greifen und fühlen kann „fließt“. Absolut alles was der mit den Sinnen erfahrbaren Welt angehört, Platon nennt dies die Sinnenwelt, besteht aus einem Material an dem die Zeit zehrt. Aber gleichzeitig ist alles nach einer zeitlosen Form gebildet, er nennt dies Idee, die ewig und unveränderlich ist und in der Welt der Ideen existiert. Die Welt der Ideen ist für Platon die wahre Wirklichkeit, und das, was sich den Sinnen zeigt, ist für ihn ein unvollkommenes Abbild. Platon setzt das Wesen einer Sache mit der Idee einer solchen gleich. Nach Platon ist es nur möglich über eine Sache auszusagen was sie ist, wenn man ihr Wesen kennt, alles andere kann zur Täuschung führen:

Das zunächst sich Zeigende, das einzelne hier und dort, vernehmen wir durch die Sinne. Den Sinnen zeigt sich z.B. dieser Baum hier und jener Baum dort; aber ihnen zeigt sich gerade nicht das Baumhafte, nicht das in allen Bäumen bei all ihrer Verschiedenheit Eine und Selbe. Den einzelnen Baum können wir mit den Händen greifen und mit den Augen sehen. Aber anwesend und gegenwärtig sind nicht nur die einzelnen Bäume, sondern gerade auch das eine und selbe Baumhafte in allen Bäumen. Und nach dem kann man nicht mit den Händen greifen und man kann es nicht mit den Augen sehen. Es ist das ungreifbare und unsichtbare Wesen der Dinge. Das Wassein ist ein mit den Sinnen Ungreifbares, ist ein nur im unsinnlichen Vernehmen Fassbares. Das nur einem unsinnlichen Vernehmen Zugängliche ist das Wesentliche“ (Volkmann-Schluck 1992 zit. nach Horster 1994, S. 12).

Ein Baum sieht immer anders aus, dennoch nennen wir ihn Baum. Das Baumhafte des Baumes ist das Bleibende, während jeder einzelne Baum der sich unseren Sinnen zeigt entsteht, besteht und vergeht. Das Baumhafte des Baumes können wir nach Platon allerdings nur mit der Vernunft und nicht mit den Sinnen wahrnehmen (vgl. Horster 1994, S. 12).

Den Weg eines Philosophen von den unklaren Vorstellungen hin zu den wirklichen Ideen hinter den Phänomenen der Natur, die nach Platon nur Schattenbilder der ewigen Ideen sind, schildert uns Platon im sogenannten Höhlengleichnis.

In diesem Gleichnis spricht Platon das Schicksal seines Lehrers Sokrates an. Dieser ist der Sonne, die in Platons Höhlengleichnis mit der Vernunft gleichzusetzen ist, ansichtig geworden und nun in der Lage, die Dinge der Welt durch diese Vernunft wahrzunehmen. Er ist nun von den Ketten, die seinen Horizont einschränkten, befreit und hat sich schrittweise dem Ausgang genähert, was als Loslösung vom Gewohnten hin zum Ungewissen verstanden werden kann. Diesem Weg ins Ungewisse ist jedoch stets die Freiheit immanent, sich dem Ungewohnten nicht zu verschließen, sondern es sich durch die Vernunft Schritt für Schritt zu erschließen. Dies impliziert, dass Freiheit nicht an die bloße subjektive Ungebundenheit und individualistische Willkür sondern an die Offenheit und Unverstelltheit des Erkennens und Lernens gebunden ist (vgl. Koch 1995, S. 99 ff.). Sokrates will diese neu erlangte Freiheit seinen Mitbewohnern nicht vorenthalten und kehrt in die Höhle zurück. Den Versuch, die Vernunft in seinen Mitmenschen zu wecken, bezahlt Sokrates mit dem Tode. Er will die Menschen in Griechenland vom Götterglauben befreien und fordert sie auf, selbständig nachzudenken und sich nicht mehr auf die mythischen Kräfte zu verlassen. In diesem Sinne handelt das Höhlengleichnis vom Mut und von der pädagogischen Verantwortung des Philosophen.

Des weiteren will Platon zeigen, dass das Verhältnis zwischen der Finsternis der Höhle und der Natur draußen dem Verhältnis zwischen den Phänomenen der Natur und der Ideenwelt entspricht. Die Befreiung der Menschen aus der Höhle, und das ist Sokrates und Platon sonnenklar, kann nicht durch Belehrung geschehen. Es wird nicht möglich sein, einem Höhlenbewohner in Worten klar zu machen, dass die Sonne uns allen das Leben schenkt, wenn er diese noch nie gesehen hat. Hier wird die Beziehung zur geistigen Hebammenkunst deutlich: Jeder muss das Licht der Welt selbst erblicken. Das Licht der Welt wird im Höhlengleichnis erblickt, wenn der Mensch sich befreit oder er von seinen Ketten befreit wird und dann ohne zu überstürzen Schritt für Schritt aus der Höhle aufsteigt. Auf einmal erkennt er die Wirklichkeit hinter den Schatten, die er vorher für die Wirklichkeit hielt. Auch dies erinnert an die Hebammenkunst des Sokrates; es wurde bereits gesagt, dass Sokrates und Platon auf der Suche nach dem Wesen einer Sache von konkreten Erfahrungen ausgehen. Sie sind der Ausgangspunkt der Suche nach dem Wesen und der Wahrheit als der Aussage über das Wesen. Wahrnehmen kann jeder einzelne Mensch. Über das Wahrgenommene kann er sich seine Auffassung bilden Der Betrachter kann allerdings nie sicher sein, ob seine auf das Wahrgenommene bezogene Äußerung lediglich eine bloße Annahme oder eine wahre Aussage ist. Im Gespräch von Angesicht zu Angesicht wird sich dann Schritt für Schritt dem Wesen der in Rede stehenden Sache genähert, indem die geäußerte Anschauung überprüft, korrigiert oder bestätigt wird.