Zukunftsperspektiven des Sokratischen Gesprächs

Das Sokratische Gespräch nach Nelson und Heckmann wird derzeit an Volkshochschulen und Hochschulen verschiedener Fachrichtungen praktiziert. Im Rahmen der Philosophischen Politischen Akademie e. V. finden Sokratische Gespräche inzwischen mehrmals im Jahr an verschiedenen Orten der BRD statt. Im Januar 1994 wurde die Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren (GSP) als eingetragener Verein mit Sitz in Hannover gegründet. Die GSP ist die Vereinigung der Gesprächsleiter, die sich die Aufgabe gestellt haben, das Sokratische Gespräch in der Tradition von Nelson und Heckmann fortzuführen, praktisch und theoretisch weiterzuentwickeln und weitere Gesprächsleiter auszubilden.

Die Sokratische Methode wird heute, wenn auch in abgewandelter Form, in der Organisations- und Unternehmensberatung angewendet (vgl. Kessels 1997, S. 11-46). Ob die Grundsätze bei der Durchführung eines Sokratischen Gesprächs jedoch eingehalten werden (können), in einem Bereich, der den Prinzipien Effizienz, Messbarkeit, Quantifizierbarkeit, Kontrolle und insbesondere der Gewinnmaximierung folgt, ist meines Erachtens fraglich. Ute Siebert spricht in diesem Kontext, in Anlehnung an Georg Ritzer von der „McDonaldisierung des Sokratischen Gesprächs“ (vgl. Siebert 1997, S. 47-52), da zu befürchten ist, dass das Sokratische Gespräch sich den oben genannten Prinzipien der gegenwärtig herrschenden neoliberalen Marktlogik anzupassen hat und der Gesprächsleiter dann seinen „Kunden“ nur noch „kritisches Potential in vorgefertigten, mundgerechten Häppchen anbietet“ (Siebert 1997, S. 51).

Im Sommersemester 2003 wurde an der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit Saarbrücken (KHSA) erstmals ein sokratisches Seminar unter der Leitung von Dieter Krohn, der Vorstandsmitglied der PPA und seit 1994 Vorsitzender der GSP ist, angeboten. Studierende der KHSA und Interessenten aus der Praxis werden hierbei zum „gemeinsamen, selbsttätigen, argumentierenden und schrittweise abstrahierenden Denken aufgefordert“ (Kraimer 2002, S. 129). In solchen Seminaren können bestimmte Fragestellungen, z. B. zur Ethik Sozialer Arbeit, aufgegriffen und dann nach Sokratischer Methode Schritt für Schritt bearbeitet werden. Dies wird meines Erachtens für die Teilnehmer eine Vertiefung in bestimmten Themenbereichen Sozialer Arbeit unter oben bereits genannten Gesichtspunkten ermöglichen. Gleichzeitig dient ein solches Seminar den Teilnehmern als Einführung in die Sokratische Methode, da die Kunst des Sokratischen Gesprächs nicht ausschließlich durch „Studium“ erworben werden kann, sondern es der Anleitung durch Personen, die diese Kunst beherrschen, bedarf.

Nach Kraimer ist für die sokratische Methode konstitutiv, dass sich bestehende Vorstellungen durch den Austausch von Argumenten präzisieren oder revidieren lassen, wodurch ein Bildungsprozess initiiert wird. Außerdem werden durch den Austausch von Gedanken gemeinsame Erkenntnisse gewonnen, in dem sie zur Sprache gebracht werden (vgl. Kraimer 2002, S. 129). Die im Sokratischen Gespräch vollzogene Aufforderung zur Selbsttätigkeit (a. a. O., S. 136) birgt Chancen für die professionelle Praxis der Sozialen Arbeit, Klienten durch „eine maieutische Hilfe zur Selbsthilfe“ (Haupert 2002, S. 82) in der Bewältigung sozialer Krisen, die als Leiden erfahren werden, zu unterstützen. Nach Kraimer liegen für die professionalisierten helfenden Berufe in der „methodisch kontrollierten Weise des Arrangements von Gesprächen und Erzählungen sowie in deren theoretischer Rekonstruktion Chancen, Anknüpfungspunkte für die Krisenbewältigung einer gestörten Lebenspraxis zu finden, die einen Interventionsprozess anleiten können“ (Kraimer 2002, S. 130).

Die Einbeziehung der Sokratischen Methode in die Lehre und das Studium der Sozialen Arbeit kann meiner Einsicht nach einer Standardisierung, Technokratisierung und einer unkritischen Übernahme von Begrifflichkeiten entgegenwirken, da die Methode das selbsttätige abstrahierende Denken einfordert und somit der Bildung einer kritischen Haltung dient.

Die Teilnahme an einem Sokratischen Gespräch hilft allen Beteiligten, nicht unbedingt „schlauer“, aber auf jeden Fall „weniger dumm“ zu werden. Durch den autonomen Gebrauch der Vernunft im Gespräch wird das Selbstvertrauen in die eigene Urteilskraft bestärkt, was wiederum den Menschen widerstandsfähiger werden lässt gegen die insbesondere durch die Kulturindustrie gepredigten Dogmen der „Schönen neuen Welt“, die Freiheit und Partizipation an Kultur nur vorgaukeln und uns nur die Schattenbilder der Wirklichkeit sehen lassen. In diesem Sinne schließe ich in der Überzeugung, dass die Beschäftigung mit der Sokratischen Methode einen Teil dazu beitragen kann, einer drohenden neokonservativen Pause in der Geschichte des kritischen Denkens entgegenzuwirken.